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Neumarkt: Verantwortung statt Symbolpolitik

In diesen Wochen ist der Neumarkt wieder Dauerthema in Presse und Politik – mit Bildern, die die Härte des Alltags vor Ort zeigen. Kaum verwunderlich, dass die Parteien ihn mitten im Wahlkampf für sich entdeckt haben, um Stimmung zu machen. Natürlich sind die Probleme immens: sichtbar konsumierende, schwer suchtkranke Menschen, Konflikte mit Passantinnen und Passanten, Spuren wie gebrauchte Utensilien oder Verschmutzungen. Für viele Anwohnerinnen und Anwohner ist das eine tägliche Belastung. Doch all das ist nicht neu. Die offene Drogenszene in Köln hat eine lange Geschichte, die bis in die 1970er-Jahre zurückreicht.

Kein kölsches Problem

Offene Drogenszenen sind ein bekanntes Phänomen praktisch aller westlich geprägten Großstädte. München kämpft mit steigenden Zahlen an Drogentoten trotz repressiver Politik, Paris verlagert das Problem von einem Platz zum nächsten, der Karlsplatz in Wien, Skid Row in Los Angeles – die Liste ließe sich fortsetzen. Auch Köln bildet da keine Ausnahme. Metropolen ziehen aufgrund ihrer Infrastruktur, Anonymität und Hilfsangebote überproportional viele Abhängige an – auch aus dem Umland. Köln mit seinem Neumarkt ist also nicht einzigartig, sondern Teil einer internationalen Entwicklung, die mit der Globalisierung des Drogenmarkts und der sozialen Dynamik großer Städte zusammenhängt.

Dass der Neumarkt aktuell so im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, ist also nicht Ausdruck einer besonderen „kölschen Misere“, sondern schlicht die Kölner Ausprägung eines weltweiten Großstadtphänomens.

Symbolpolitik ist keine Lösung

Die Annahme konservativer Politik, mit einem Umzug des Drogenkonsumraums nach Kalk das Problem lösen zu können, beruht auf einem fachlich falschen Bild der Realität. Kein einziges Beispiel in Europa oder Nordamerika belegt, dass sich eine offene Drogenszene durch Verlagerung auflösen lässt. Selbst Frankfurt hat in den 1990ern zunächst genau diese Fehler gemacht, bevor es zum „Frankfurter Weg“ kam, der Konsumräume, Substitution und Streetwork miteinander kombinierte. Überall, wo man glaubte, durch Law-and-Order eine Szene vertreiben zu können, ist sie am Ende nur gewandert.

Verdrängung ist eine Illusion. Der Neumarkt bleibt Magnet – durch seine Lage, seine Infrastruktur und die seit Jahrzehnten gewachsenen Strukturen. Wer ernsthaft Entlastung will, muss sich den Realitäten stellen, anstatt eine Phantomlösung zu propagieren.

Zürich zeigt den Weg – aber nur, wenn wir ihn wirklich gehen

Wer Lösungen sucht, muss nach Zürich schauen. Dort hat man nicht einfach verlagert, sondern ein umfassendes Konzept umgesetzt: mehrere Konsumräume, Streetwork, Substitution, Housing First – und eine klare Haltung, dass Sucht in erster Linie eine Krankheit ist. Das Ergebnis: Heute gibt es keine offene Drogenszene mehr in Zürich. Aber eines muss man deutlich sagen: Der Zürcher Weg funktioniert nur, wenn er konsequent umgesetzt wird.

Der Sozialdezernent Harald Rau will das leer stehende Kaufhof-Gebäude in der Innenstadt zu einem zentralen Drogenhilfezentrum umbauen. Gestern im Rat hat er klargemacht, dass die Politik mitziehen und die dafür nötigen 15 Millionen Euro freigeben muss. Das ist ein wichtiger Schritt – aber er alleine reicht nicht aus. Denn wie Zürich gezeigt hat, braucht es nicht nur ein großes Zentrum, sondern ein Netz von Anlaufpunkten. Denkbar wären etwa ergänzende kleinere Einrichtungen in fußläufiger Nähe zum Neumarkt – etwa an den Ringen, in Richtung Barbarossaplatz oder am Ebertplatz. So könnte die Szene entzerrt und der Druck von einem einzigen Ort genommen werden.

Ein solches Konzept bedeutet allerdings einen immensen Aufwand. Zürich beschäftigt pro Kopf rund doppelt so viele Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter wie Frankfurt oder Köln. Es braucht medizinisches Fachpersonal, Streetworker, Substitutionsärzte, Sicherheitskräfte, Verwaltung – und eine dauerhafte Finanzierung. Es bedeutet zudem regionale Zusammenarbeit: Köln kann nicht alleine die Last für das gesamte Rheinland tragen. Wenn Hilfsangebote nur hier bestehen, werden Menschen aus dem Umland immer wieder in die Stadt gezogen. Zürich vermeidet genau das, indem dort nur Zürcher*innen aufgenommen werden, während andere Kommunen ebenfalls Verantwortung übernehmen müssen.

Wir müssen also ehrlich sein: Eine nachhaltige Lösung wird Jahre dauern und hohe Summen verschlingen. Wer jetzt einfache Antworten verspricht, handelt unseriös. Aber wenn wir den Mut haben, das Problem mit derselben Konsequenz wie Zürich anzugehen, dann können auch wir den Neumarkt entlasten und sowohl Anwohner*innen als auch Abhängigen gerecht werden.

Verantwortung statt Symbolpolitik

Köln sieht sich vor einer Entscheidung: Wollen wir weiter mit Schlagzeilen und Dringlichkeitsanträgen so tun, als ließe sich ein jahrzehntealtes Problem mit einem schnellen Trick lösen – oder haben wir den Mut, den schweren, aber einzig wirksamen Weg zu gehen? Wer am Neumarkt nur Härte fordert, verkennt, dass es um Menschen geht, die krank sind und Hilfe brauchen – und dass die Anwohner*innen nur dann wirklich entlastet werden, wenn Konsum nicht mehr auf offener Straße stattfindet.

Der Zürcher Weg zeigt: Es geht. Aber er verlangt Konsequenz, Geld und politischen Willen. Alles andere ist Augenwischerei. Wir stehen an der Seite all jener, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen – für die Menschen in der Sucht, für die Sicherheit der Nachbarschaft und für die Glaubwürdigkeit einer Stadt, die nicht wegsieht, sondern handelt.

Hintergrund

Schon in den 1970ern zogen Verkehrsknotenpunkte wie der Neumarkt oder später der Ebertplatz Abhängige an, weil hier die Anonymität einer Großstadt, die Nähe zu Hilfsangeboten und die Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen, zusammenkamen. In den 1990er-Jahren verschärfte sich die Lage, als Heroin den Drogenmarkt dominierte und Köln – wie viele andere westdeutsche Städte – mit einer wachsenden Szene konfrontiert war. Die Eröffnung des Drogenkonsumraums in den frühen 2000ern direkt am Neumarkt sollte einerseits Gesundheitsschutz gewährleisten, andererseits die Belastung im öffentlichen Raum reduzieren. Dass er bis heute dort verortet ist, ist kein Zufall: Er wurde eingerichtet, weil die Szene bereits am Platz präsent war. Seither haben sich Konsumgewohnheiten stark verändert. War früher Heroin die dominierende Substanz, so ist es inzwischen der Mischkonsum – vor allem Crack, das einen kurzen, intensiven Rausch erzeugt und mehrfaches Konsumieren am Tag notwendig macht. Das führt zu verstärktem Konsum im öffentlichen Raum und macht die Szene für Passantinnen und Passanten unmittelbarer erfahrbar. Dass das Thema heute wieder so stark in den Fokus rückt, liegt also nicht daran, dass es das Problem erst seit Kurzem gibt, sondern daran, dass es eine neue Dimension angenommen hat – sichtbarer, belastender, schwerer zu übersehen.